Vor ein paar Jahren wurde das „Zentrum für evangelische Predigtkultur“ gegründet, deren erster Leiter du warst. Ist dieser Schritt notwendig geworden, weil sich womöglich Kulturlosigkeit breit gemacht hat auf deutschen Kanzeln?
Nein, eher im Gegenteil. Im Rahmen ihres Reformprozesses, den die EKD vor etwa zehn Jahren angestoßen hat, besann sich die Evangelische Kirche in Deutschland mehr und mehr auf ihre wesentlichen Qualitäten und Aktivitäten. Und dazu gehört zweifellos die Predigt. Nach der neuesten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung erwarten 92 Prozent der Evangelischen von einem Gottesdienst, dass er vor allem eine gute Predigt enthalten solle, womit die Predigt den höchsten Wert von allen abgefragten Aussagen zum Gottesdienst erhielt. Und als das Magazin „chrismon“ eine repräsentative Umfrage in Auftrag gab und fragte, worauf man im Gottesdienst am Heiligabend auf keinen Fall verzichten wolle, da nannten die allermeisten die Predigt. Noch vor dem Weihnachtsevangelium, noch vor „Stille Nacht“ und „O du fröhliche“! Woche für Woche erreicht die evangelische Predigt in Deutschland rund 800.000 Menschen in den Gottesdiensten landauf landab – und dabei sind die Fernsehgottesdienste, die Radio- und Zeitungsandachten noch gar nicht mit bedacht. Kurz: die Predigt ist nach wie vor ein Markenzeichen der evangelischen Kirchen. Gleichzeitig weckt sie immer neu den Glauben, stärkt die Hoffnung, weist Wege der Liebe. Auch daran erinnerte sich die EKD knapp 500 Jahre vor dem Reformationsjubiläum 2017. Für eine Kirche, die sich als eine „Kirche des Wortes“ und als „Geschöpf des Wortes“ versteht, ist es eigentlich eher umgekehrt verwunderlich, dass es bislang kein „Zentrum für evangelische Predigtkultur“ gab.
Das Zentrum hat dann freilich auch die Aufgabe, Predigerinnen und Prediger, die müde geworden sind, zu ermuntern, denen, die keine Ideen mehr haben, durch Impulse weiterzuhelfen und so die Lust an der Predigt und die Leidenschaft für das Predigen zu fördern.
Manche Predigten nehmen den Verlauf der – wie du es nennst – „Jesuskurve“. Was ist das eigentlich?
Den Begriff „Jesuskurve“ habe ich bei einer Kollegin aus dem Bereich des christlichen Rundfunkjournalismus kennengelernt. Damit bezeichnete sie eine bestimmte, vor allem bei Kurzandachten im Radio oder beim „Wort zum Sonntag“ im Fernsehen recht oft anzutreffende und daher sehr vorhersehbare Form: Predigten oder Andachten beginnen mit einem Bild, einer Erfahrung oder einer Erzählung ‚aus dem Leben‘ – und jeder weiß, dass der Pfarrer oder die Pfarrerin irgendwann die Kurve hin zu „Jesus“, hin zur Bibel oder hin zur christlichen Botschaft nehmen wird. Sehr salopp gesagt: Egal, wo die Andacht beginnt, am Ende landet sie immer bei Jesus. – Das ist nicht prinzipiell schlecht, und man kann eine Andacht oder Predigt immer wieder einmal mit diesem Strukturmodell gestalten. Problematisch ist es nur dann, wenn es zur Masche wird. Die Begebenheit aus dem Alltag, die Schilderung aus dem Leben wird dann zum bloßen Aufhänger und verliert ihren Eigenwert.
Was trägt noch dazu bei, dass eine Predigt vorhersehbar und – mit Verlaub – langweilig wird?
Manchmal begegnen in Predigten Formulierungen, die zu Formeln geworden sind. Sie werden kaum noch hinterfragt und sind daher erwartbar. Die unglaubliche, großartige und anstößige Botschaft des Evangeliums verliert dadurch an Prägnanz und Schärfe. Gott wird Mensch – das bleibt eine Provokation. Gott ist mitten in unserem Leben gegenwärtig – das ist frohe Botschaft für jeden einzelnen. Gott rechtfertigt den Sünder ohne alle Werke und gibt den Glauben, wo und wie es ihm gefällt – das ist in unserer Welt, die auf Leistung baut und in der wir die Gesetze der Ökonomie Tag für Tag erleben, schier unvorstellbar. Gott hat den Tod besiegt – ein für alle Mal, das nimmt allen Mächten und Gewalten, denen wir ausgesetzt sind, ihre Bedrohlichkeit. Für dieses provokante Evangelium gilt es, immer neu Worte zu finden, die heute tragen.
Demgegenüber neigen wir manchmal in Predigten zu sprachlichen Entschärfungen. Da ist die Rechtfertigung dann ein „Geschenk, das wir nur annehmen müssen“. Und schon verschiebt sich die Botschaft, weil plötzlich wir als die Beschenkten etwas tun müssen – nämlich: „das Geschenk annehmen“ –, wo Rechtfertigung doch bedeutet, dass wir nichts zu unserem Heil tun können und müssen. Oder da sagen wir in Predigten: „Gott will uns alle trösten“ – und merken nicht, dass durch das Wörtchen „will“ die Aussage entschärft wird. Wenn er „will“, warum tut er es dann nicht? Warum bin ich nicht getröstet? Will er und kann nicht? Oder liegt es an mir, dass ich mich nicht getröstet fühle?
Solche Beispiele sind Kleinigkeiten, aber sie zeigen, wie wir uns manchmal in Formulierungen hineinbegeben, die so bekannt sind, dass wir sie kaum noch reflektieren, die aber die Botschaft des Evangeliums entschärfen und entwerten.
Der Trend geht gegen die vorhersehbare Predigt. Die Gottesdienstliturgie ist ja auch etwas ziemlich Vorhersehbares. Siehst du auch im liturgischen Bereich Handlungsbedarf?
Ja, auch liturgisch gibt es etwas zu tun. Aber hier sehe ich die Notwendigkeit gerade umgekehrt. Ich denke, es würde uns Evangelischen gut tun, das Erwartbare, Stabile, Verlässliche der Liturgie als großen Schatz und Reichtum anzusehen. Die Liturgie kann als Heimat erlebt werden, als ein Haus, das längst gebaut ist, in dem unsere Vorfahren gewohnt haben und in denen auch wir wohnen können. Mit ihren geprägten Texten und Melodien gibt sie gerade so Freiheit. Gerade dann, wenn die Liturgie als Heimat erfahren wird, kann umgekehrt die Predigt auch etwas wagen und riskieren.
Dann kehren wir es doch jetzt ins Positive: Wie sieht eine deiner Ansicht nach gelungene Predigt aus?
Zu einer gelungenen Predigt gehören für mich vor allem vier Dinge: (1) Zunächst das Vertrauen auf die biblischen Worte, Bilder und Geschichten. Wer nicht mit Lust, Interesse und Neugier die Bibel liest und sich von ihr erwartet, dass sich das eigene Leben im Spiegel der biblischen Worte neu erschließt, wird große Mühe mit der Predigt haben. (2) Die Lust an der Sprache: Predigt ist Spracharbeit und Sprachhandwerk. Da lässt sich vieles ausprobieren und erkunden – gerade wenn es darum geht, auch einmal neu und ungewohnt, persönlich und engagiert zu reden. (3) Drittens das Risiko der Individualität. Keine Predigt muss sein wie eine andere. Ich muss nicht vollständig sein, in dem, was ich sage. Meine Predigt ist individuelles Wort zu bestimmter Zeit – und darf Fragment bleiben. (4) Schließlich: ein großes Zutrauen an die Hörerinnen und Hörer, die sich ihre eigenen Gedanken machen, ihre Erfahrungen selbst mit ins Spiel bringen können. Ich muss als Prediger nicht ganz genau wissen, was dieses oder jenes biblische Wort genau für diesen oder jenen Menschen bedeutet. Aber ich kann – im Bild gesprochen – durch meine Predigt Wege bahnen, die meine Hörerinnen und Hörer selbst im Raum des biblischen Wortes gehen können.
Welche Rolle spielen die Predigthörer? Sieht beispielsweise eine „gelungene Predigt“ in der Großstadt anders aus als auf dem Land?
Ja, mit Sicherheit. Luther hatte schon Recht mit seinem berühmten Wort, man müsse „dem Volk aufs Maul schauen“. Freilich: dies kann nicht Anbiederung an irgendeine Meinung, an irgendeinen Jargon bedeuten. Aber es muss bedeuten, dass ich als Predigerin und Prediger in der Welt lebe, in die hinein ich predige. Dass ich weiß, was Menschen bewegt. Dass ich durch Fernsehen, Kino und Literatur mit Möglichkeiten der Sprache in unterschiedlichen Milieus vertraut bin – und dann meine eigene Rede entsprechend gestalte.
Pfarrer sind ja nicht nur Prediger. Zahlreiche administrative Aufgaben, Verantwortung für mehrere Gemeinden, Religionsunterricht, Sitzungen etc. behindern viele Pfarrer in ihren gründlichen Vorbereitung auf die Predigt. Wie schafft er es, am Sonntag dennoch die Menschen zu erreichen?
Zwei Antworten auf diese wichtige Frage: (1) Zunächst muss es nicht unbedingt sein, dass die vielfältigen anderen Aufgaben nur eine Behinderung auf dem Weg zur Predigt sind. Wenn ich als Prediger das biblische Wort für meine nächste Predigt (am besten auswendig) schon während der Woche im Herzen trage, dann werden sich bei vielen Begegnungen immer wieder interessante Erkenntnisse und Entdeckungen ergeben. In einem Gespräch merke ich plötzlich, wie das biblische Wort sich mit Lebenserfahrung anreichert. In einer Sitzung kommt mir auf einmal ein wichtiger Gedanke. Ein Schüler stellt eine Frage, bei der mir sofort das biblische Wort in den Sinn kommt … (2) Andererseits aber ist es schon so, dass ich mir wünsche, dass die Predigtarbeit wieder mehr Raum einnimmt in der Arbeitswoche von Pfarrerinnen und Pfarrern. Ich wünsche mir, dass sich Kirchen Gedanken darüber machen, wie Pfarrerinnen und Pfarrer von administrativen Aufgaben entlastet werden können, damit sie – wenigstens – einen Arbeitstag pro Woche für die Arbeit an der Predigt Zeit haben. Ich weiß, dass das vielleicht utopisch klingt. Aber es ist zu bedenken, wie segensreich sich so ein Tag auswirken könnte. Da kann ich als Pfarrer selbst neue Kraft schöpfen. Da finde ich Zeit, Bibel zu lesen und theologisch zu arbeiten. Da schöpfe ich neu aus den Quellen der Tradition. Alles dies wird mein sonstiges Leben, meine eigene Frömmigkeit und mein Arbeiten bereichern!
Es werden immer wieder Seminare und Workshops zum Thema „Predigt“ angeboten, nicht wenige hast du in den vergangenen Jahren geleitet. Verließen die Teilnehmer deine Seminare als „gute Prediger“?
Vielen Dank für diese Frage! Es wäre grundverkehrt, wenn homiletische Fortbildungen oder die Arbeit des Zentrums für evangelische Predigtkultur als eine Art Qualitätssteigerungsmaschine verstanden würden: Auf der einen Seite kommt ein schlechter Prediger hinein und auf der anderen Seite ein guter Prediger heraus. Nein, das ist es gerade nicht! Und die Erfahrung zeigt: Es gibt keine schlechten Prediger, es gibt nur unterschiedliche Predigertypen und natürlich unterschiedliche Begabungen. Und da kann es in der Tat sein, dass es jemandem gut tut, sich einmal wieder ganz intensiv und exegetisch gründlich mit Worten der Bibel zu beschäftigen. Für jemand anderen ist eher die Frage nach der rhetorischen Gestaltung der Predigt interessant. Wieder jemand anders kann sich fragen, wie die Predigtinhalte relevanter und die Predigt vielleicht angriffiger oder politischer werden könnte.
Du vertrittst ja die „Dramaturgische Homiletik“. Manche, die Martin Nicols auch in Ungarn erschienenes Buch nicht gelesen haben, meinen, dass nach Eurem Ansatz das Bibelwort mit externen pyrotechnischen Hilfsmitteln und sonstigen Knalleffekten von außen spannend gemacht werden muss …
Nein, es geht eben nicht darum, die Predigt irgendwie aufzupeppen und dadurch die eigene Person des Predigers oder der Predigerin in den Vordergrund zu spielen. Im Gegenteil: Es geht darum, die Spannung, die in den Worten, Bildern und Geschichten der Bibel liegt, zu entdecken und in der eigenen Predigtrede in genau diese Spannung mit hineinzunehmen. Eine nach der Dramaturgischen Homiletik gestaltete Predigt fragt sich dann, wie dies durch die Predigtrede gelingen kann, welche einzelnen sprachlichen Mittel genutzt werden können und wie die Predigt als Ganze aufgebaut werden kann.
Eine letzte – persönlichere – Frage: Hast du selbst „Predigtschwächen“?
Martin Luther hat einmal in einer Tischrede gesagt: „Ich habe mich oft selbst angespien, wenn ich von der Kanzel kam. Schäme dich, wie hast du gepredigt! Du … hast überhaupt nicht das Konzept beachtet! Und eben diese Predigt haben die Leute aufs höchste gelobt, dass ich seit langer Zeit nicht eine so schöne Predigt gehalten hätte … So bin ich gewiss der Meinung: Predigen ist ein ganz ander Ding als wir meinen …“ Die Erfahrung, die Luther hier beschreibt, kenne ich auch. Ich bin – ehrlich gesagt – selten zufrieden mit meinen Predigten. Oft weiß ich sehr genau, was ich noch hätte besser und ganz anders machen können. Aber immer wieder mache ich – wie Luther und viele andere Predigerinnen und Prediger vor und neben mir – die wunderbare Erfahrung, dass Gott selbst aus meinen dürren Worten das Wort machen kann, das Hörerinnen und Hörer als aufrüttelndes oder befreiendes Wort hören müssen. Gott sei Dank!